Samstag, 25. November 2017

Isabella Archan: Auch Killer haben Karies

- ein skurriler Kriminialroman.


Taschenbuch, 320 Seiten
Emons Verlag, 23. März 2017

Nachdem ich den Krimi "Helene geht baden" von Isabella Archan rezensiert hatte, war die Autorin, die auch schon in meiner Lieblings-Buchhandlung gelesen hat, so freundlich, mir einen ihrer weiteren Krimi zukommen zu lassen.

Auch dieses Mal kommt der Humor glücklicherweise nicht zu kurz und mildert so die recht drastischen Schilderungen des Mordes.




Worum geht es?

"Ebbi liebte ihren Mörder." (S.8)

So lautet der erste Satz des Romans, in dem zu Beginn minutiös beschrieben wird, wie ein Mann in Frauenkleidern von einem anderen stranguliert wird.

Währenddessen sitzen im Café gegenüber der Kölner Hauptkommissar Jakob Zimmer und Dr. Leocardia Kardiff, eine Zahnärztin mit Spritzenphobie, die sich beide während einer Mordermittlung kennen gelernt haben. ("Tote haben kein Zahnweh")

Sie werden während ihres 7.Dates Zeuge, wie "Ebbie" aus dem Fenster der Wohnung auf ein Auto fällt und Leo kann nur noch den Tod feststellen, während Jakob Zimmer sofort seine Kollegen - Birgit von Zeh, Per Kowalski und Luis Fahrenz - benachrichtigt und den Tatort, eine leere Wohnung, sichert.
Beim Toten handelt es sich um Eberhard Dallinger, 51 Jahre alt, wohnhaft in Köln, der eine ausgeprägte weibliche Seite hatte - daher die Frauenkleider, die jedoch nicht von seiner Frau stammen, die seine Vorliebe kennt.
Angestellt war er bei Hannes Probst, der eine Kosmetik-Serie vertreibt und am nächsten Tag in Leos Zahnarztpraxis auftaucht. Er ist einer von vier neuen Patienten, die sie am Tatort gesehen und dort erfahren haben, dass sie Zahnärztin ist.

Da auch die Innensicht des Mörders selbst eingenommen wird, erfahren wir als Leser*innen, dass einer der Neuen der Täter sein muss:

"Er hatte vor gerade mal einer Stunde mit stoischer Ruhe einen Gürtel um einen Hals gelegt und einen Körper zwei Etagen abwärts befördert, doch bereits seit seinem fünften Lebensjahr fürchtete er sich vor allem, was mit der Silbe "Zahn-" begann. Panisch. (...) Den ersten Stich an den unteren Vorderzähnen hatte er vorhin bei der Frage "Die Zahnärztin?" gespürt. Ausgesprochen von einer Polizistin in Zivil, die sich an ihm vorbei durch die Menge gekämpft hatte, ihren Ausweis in die Höhe haltend." (S.49, 50)

Am lustigsten sind die Kapitel, die aus der Ich-Perspektive Leos erzählt werden, die nicht nur von einer Spritzen-Phobie geplagt ist, sondern auch den Tick hat, sich selbst zu ohrfeigen, um sich zur Räson zu rufen. Sich zu sagen, nicht in die Ermittlungen einzugreifen. Sie ist 44 Jahre alt, geschieden, Mutter von 15-jährigen Zwillingen und scheint eine sehr neugierige Person zu sein, so dass sie sich natürlich einmischen wird und zwangsläufig in Gefahr gerät.

Die Suche nach dem Mörder entpuppt sich dabei als schwieriger als gedacht. Der junge Ermittler Luis findet heraus, dass es innerhalb Deutschlands und sogar in Bern weitere Fälle gibt, bei denen der oder die Tote nach dem Mord "gefallen" sind. Hat das Kölner Ermittlerteam es mit einem Serienkiller zu tun?
Der zunächst recht einfach erscheinende Fall hält noch eine erstaunliche Wende bereit.


Bewertung
Wie in "Helene geht baden"  haben wir es auch dieses Mal mit einem Täter zu tun, der psychisch krank ist, ohne dass dies im Detail geklärt wird. Schwankt der Krimi um Helene zwischen Gefahr und Komik, überwiegen in diesem Krimi die komischen Elemente. Dafür sorgt die schräge, chaotische, aber liebenswerte Leo, die auf eigene Faust Fragen stellt und in den Fokus der Gefahr gerät - und das gleich mehrmals.
Obwohl man recht früh weiß, wer der Täter ist, erfährt der Fall eine überraschende Wende und es zeigt sich, dass sich mehr dahinter verbirgt, als man zunächst ahnt.
Besonders gut haben mir die Wechsel in der Erzähl-Perpektive und die szenischen Elemente gefallen. Ein Kapitel besteht ausschließlich aus einem Dialog, einem Telefongespräch, und eines gibt wieder, was auf die Mailbox des Mörders gesprochen wird, ein weiteres ist "Eine Szene wie aus einem Drehbuch:" (S.273) mit entsprechenden Regieanweisungen.

Ein spannender, amüsanter und sehr unterhaltsamer Krimi, mit einem sympathischen Ermittler und einer schrägen Zahnärztin, die sicherlich noch in den ein oder anderen Fall hineingeraten wird - so deutet es zumindest der Epilog an.

Hier geht es zur Verlagsseite.

Sonntag, 19. November 2017

Friedrich Ani: Ermordung des Glücks

- melancholischer Kriminalroman.

Gebundene Ausgabe, 317 Seiten
Suhrkamp, 11. September 2017

Vielen Dank für das Leseexemplar, hier geht es zur Buchseite des Suhrkamp Verlages.


Der erste Teil der Reihe (den ich unbedingt noch lesen will!) um den pensionierten Kriminalkommissar Jakob Franck, Der namenlose Tag, wurde mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Dies ist nun der 2.Fall für den sympathischen Ermittler, der es sich auch in seinem Ruhestand zur Aufgabe gemacht hat, "Hinterbliebenen die Nachricht vom Tod eines Angehörigen zu überbringen." (S.16)

Worum geht es in dem Mordfall?
Nachdem der 11-jährige Lennard Grabbe an einem stürmischen und regnerischen Abend nicht Hause kommt, beginnt eine fieberhafte Suche. 34 Tage später wird die Leiche in der Nähe eines Gasthofes gefunden, Tatort ist jedoch ein Spielplatz in der Nähe der Schule.
Jakob Franck sucht die Eltern auf, die ein Café betreiben, um ihnen die schreckliche Botschaft zu überbringen und "ermordet das Glück" dieser Familie.

">Ich habe Ihnen und Ihrem Mann eine schlimme Nachricht zu überbringen.<" Dann verschwand die Welt um sie herum.
Als die Welt wieder da war, gehörte Tanga Grabbe nicht mehr dazu." (S.12)

Tanja Grabbe, Lennards Mutter, zerbricht am Tod ihres Kindes, schließt sich in sein Zimmer ein. Auf der Beerdigung spricht sie sehr bewegend nur zu seinem Bild.

"Sie senkte den Kopf und bemerkte, dass sie eine gerahmte Fotografie in den Händen hielt. Das bist doch du, sagtes sie und betrachtete das sonnige Gesicht, zu ihm allein hatte sie gesprochen, nicht über ihn, nicht zu den anderen, nur zu ihm, ihrem Sohn; wenn er in ihrer Nähe war, brauchte sie niemanden sonst. Als er auf die Welt kam, brachte er sie mit." (S.54)

Sie weigert sich mit ihrem Mann Stephan und ihrem Bruder, Maximilian Hofmeister, zu sprechen, obwohl sie mit letzterem innig verbunden ist. Auch Max´ Glück, der seiner Schwester zuliebe den Friseursalon des Vaters übernommen hat, scheint verloren - ein dunkler Schatten aus der Vergangenheit bemächtigt sich seiner und will ans Licht.
Während die Sonderkommission keinen Schritt bei der Tätersuche vorankommt, begibt sich Franck auf Spurensuche. Seine Ehe ist vor 20 Jahren gescheitert, da Francks Gedanken sich fast ausschließlich um seine Arbeit gedreht haben und vielleicht auch, weil die Ehe kinderlos geblieben ist. Doch immer noch ist er seiner Ex-Frau verbunden und trifft sie regelmäßig.
In seiner Erinnerung tauchen die ungelösten Fälle seiner Vergangenheit auf und immer wieder seine Schwester, die ebenfalls ermordet worden ist.

"An diesem frostigen Montagnachmittag taumelte Franck, unbemerkt von seinem Begleiter, in seine eigene Welt; in dieser Welt hatte er seine Schwester verloren und nie aufgehört, sie zu vermissen; als läge ihr Tod nicht schon fast ein ganzes Leben zurück, sondern vielleicht erst drei Monate - so lange wie die Ermordung des elfjährigen Lennard." (S.177)

In einer Art Meditation bündelt er seine Gedanken und begibt sich auf die Suche nach dem Fossil, dem Puzzleteilchen, das zur Aufklärung des Falls führt. Er verbringt Stunden am Tatort, geht alle Zeugenaussagen und Protokolle noch einmal durch, bis er endlich das entscheidende Detail entdeckt.

Bewertung
Eigentlich lese ich prinzipiell keine Kriminalromane, in deren Mittelpunkt die Ermordung eines Kindes steht und die Eltern in ihrer Trauer zurückbleiben, da es mir zu nahe geht. Doch mehrere Rezensionen haben mich auf den Roman neugierig gemacht, so dass ich eine Ausnahme gemacht habe.

Friedrich Ani spart die Trauer der Mutter nicht aus, als Leser*in taucht man tief in ihre Gedanken hinein und kann die Ermordung des Glücks mit-fühlen. Dadurch, dass die Gedanken und Gefühle jedoch in der erlebten Rede (Sie-/Er-Perspektive) erzählt werden, entsteht eine Distanz, die es ermöglicht, die Trauer der Protagonisten zu ertragen. Trotzdem ist ein sehr melancholischer Krimi, in dem die fragile Familienkonstellation der Grabbes völlig zerbricht und der Bruder Tanjas für eine alte Schuld bezahlen kann. Menschliche Abgründe - überall.

Natürlich ist der Kriminalroman auch spannend, die fast schon exzessive Suche Francks nach dem Mörder erzeugt einen Sog, dem ich mich nicht widersetzen konnte und fast glaubt man, das Fossil werde nie gefunden.

Ein beeindruckender Roman, in dem die Suche nach dem Mörder ebenso im Vordergrund steht wie die trauernden und verzweifelten Hinterbliebenen und der beharrliche, empathische Ermittler, von dem es hoffentlich noch weitere Fälle geben wird.




Donnerstag, 16. November 2017

Robert Menasse: Die Hauptstadt

- eine europäische Farce.

Quelle: pixabay
Hörbuch von Audible
gesprochen von Christian Berkel
14 Stunden 21 Minuten

Auf der Frankfurter Buchmesse hatte ich das Vergnügen ein Interview mit Robert Menasse mitzuerleben, in dem er sich als überzeugter Europäer präsentiert hat. Da er für seinen Roman den Deutschen Buchpreis erhalten hat, war meine Neugier geweckt.


Worum geht es?

Ein Schwein läuft durch Brüssel. Zuerst sieht es der Belgier David de Vriend, Holocaust-Überlebender, der nach 60 Jahren seine Wohnung verlässt, um in ein Altenheim zu ziehen.
Karl-Uwe Frigge, Deutscher und EU-Beamter, der in der Generaldirektion Trade der Europäischen Kommission arbeitet, erblickt das Schwein von seinem Taxi aus. 
Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommision, wartet auf jenen Frigge, in den sie sich verliebt hat. Er soll ihr helfen aus dem ungeliebten Kulturbereich herauszukommen. Aus einem Restaurant heraus beobachtet sie das rosa Hausschwein, das Richtung Hotel Atlas läuft, aus dem gerade der Mörder Richard Ossietzky tritt.
Ein Mordfall, dem sich der Kommissar Brunfaut annehmen wird und der dann einfach zu den AKten gelegt wird und auch nicht gelöst werden wird - wie so viele Probleme der europäischen Union.

Martin Susmann, österreichischer Bauernsohn und Referent bei Fenia, dessen Bruder Florian einen großen Schweinemastbetrieb unterhält und der den Einfluss Martin in Brüssel gelten machen will, sieht das Schwein von seiner Wohnung aus, wie es gerade jemanden zu Boden wirft.

Professor Alois Erhart, Erimitus der Volkswirtschaft und eingeladen zu einem Think-Tank der Kommission, Europa, hilft jenem Mann, der vom Schwein zu Boden gestoßen wurde, einem Immigranten, dem durch den Kopf geht: „Sein Vater hatte ihn vor Europa gewarnt.“

In diesem furiosen Prolog erscheinen die wichtigsten Hauptfiguren  - verbunden durch ein rosa Hausschwein, das Brüssel noch einige Zeit beschäftigen wird.

Im Mittelpunkt stehen diese Figuren und das Jubilee-Projekt der Europäischen Kommission, das dazu dienen soll, das Ansehen der europäischen Union aufzupolieren. Fenia reißt das Projekt an sich und beauftragt Martin Susmann eine Idee auszuarbeiten. Dieser hat den genialen Einfall, Auschwitz in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten zu stellen. Als Ort, an dem nationale Identität aufgehoben wurde und als Symbol, dass Nationalität überwunden werden muss, damit sich ein solch unfassbares Verbrechen nie wiederholen kann. Ob sich eine solche Idee durchsetzen kann?

Neben dem Jubilee-Projekt spielt auch ein Handelsabkommen mit China eine Rolle - es geht um Schweine. Am Beispiel der (Um-)wege, die Florian Susmann als Vertreter der europäischen Schweinezüchter gehen muss und der Argumente, die diesbezüglich ausgetauscht werden, wird deutlich, wie stark die nationalen Interessen innerhalb der EU immer noch im Vordergrund stehen. 

Der Roman endet mit dem Holocoust-Überlebenden David de Vriend, der von einer Bombe in der Brüsseler U-Bahn ums Leben kommt. Mit ihm stirbt die Erinnerung und konsequenterweise endet auch die Jubilee-Idee, Auschwitz zum Zentrum der Feierlichkeiten zu machen, in den Mühlen der Bürokratie und scheitert an nationalen Befindlichkeiten.
Und das Schwein? Am Ende ist es verschwunden, wie die europäische Idee?


Bewertung
Menasse verführt dadurch, dass er mit satirischen Mitteln die EU-Kommission und ihre Arbeitsweise bloß stellt, zum Lachen. Andererseits appelliert er mit der Idee Auschwitz zum Mittelpunkt der Feierlichkeiten zu machen für die Überwindung des Nationalstaates, für ein vereintes Europa, in dem die nationalen Interessen hinter europäische zurücktreten, damit Auschwitz nie wieder Realität wird. Damit schärft er den Blick für die Grundidee hinter der EU und erinnert an das, was uns vereinen sollte.

Ein sehr interessanter Roman, der überaus unterhaltsam erzählt wird - und eine echter Hörgenuss dank des guten Vorlesers Christian Berkel. Neben der politischen Thematik wird auch die Lebensgeschichte der einzelnen Hauptfiguren ausgebreitet, die jeweils in sich stimmig ist und immer wieder um die Themen nationale Identität und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kreisen. Daneben enthält der Roman aber auch sehr berührende Szenen.

Prof. Erhardt beschreibt, wie er nach 40jähriger Ehe, mit seiner Frau Trudi guten Sex erlebt:

"Er schob ihr Nachthemd hoch, spürte dabei eine kurzen stechenden Schmerz in seinen Lendenwirbeln wie ein Stromschlag. Er stöhnte, sie zog das Hemd aus. Sie lächelte, erstaunt, fragend. Er betrachtete ihren Körper, studierte ihn. Las jede Falte, jedes blaue oder rote Äderchen und jedes Fettpölsterchen wie eine Landkarte auf der ein langer gemeinsamer Weg eingezeichnet war. Ein Lebensweg mit Höhen und Tiefen und er drückte sich erregt an sie, weinte, drückte, das Licht, der Röntgenblick und plötzlich in größter Erregung spürte er es. Ein Verschmelzen, in dem ihre Seelen sich berührten. Und sie lachte, Trudi. Ihre Seelen berührten sich.“ (Kapitel 83)

Ein Roman, den es sich zu lesen oder zu hören lohnt, und nicht nur, weil er den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

Hier geht es zur Seite des Verlags (Suhrkamp).

Montag, 13. November 2017

Bernd Mittenzwei: Die zweite Luft

- eine Novelle.

Taschenbuchausgabe, 182 Seiten
A. Fritz Verlag, 5. Juni 2017


Das Leseexemplar wurde mir vom Verlag zur Rezension angeboten. Da ich schon einige schlechte Erfahrungen mit solchen Anfragen gemacht habe, war ich zunächst kritisch. Doch die Thematik der Novelle hat mich angesprochen und überzeugt.

Worum geht es?
Der Roman spielt im Jahre 1986 in Altdorf, einer Stadt in der Nähe von Nürnberg. Zu Beginn folgen wir der 40-jährigen Lydia auf ihrem morgendlichen Lauf aus der Stadt heraus, die ihr jahrelang Heimat gewesen ist.

"Dies war ihr Nest gewesen, ihre Geborgenheit, ihr Platz im Leben. Doch das war vorbei, es bedeutete nichts mehr. Dieser ganze Mikrokosmos, der ihre Welt gewesen war, diese ökologische Nische für Kleinstädter, dieser Tümpel, in dem jede Generation aufs Neue ihren Laich ablegte, sich vermehrte, fraß und starb, dessen Gerüche sie ihr Legen lang aufgesogen hatte, sie hatte sich satt gelebt darin." (S.10)

Lydias Leben ist im Wandel, auf ihrem langen Lauf gedenkt sie ihrer besten Freundin Sulla, die sie einst aus einer heiklen Situation gerettet hat und die in Südafrika gestorben ist. An ihre Arbeitsstelle, an ihren Exfreund und als Leser*in spürt man, dass Lydia davon läuft...

Der zweite Protagonist ist Stenger, verheiratet und zum Abendessen mit den Nachbarn geladen. Eine gesellschaftliche Verpflichtung, der er sich gerne entziehen will. Eoch eine Schuld lastet auf ihm, an die ihn seine Frau erinnert. Etwas, das ihn niederdrückt und ihn zum Alkohol greifen lässt.

"Andere Männer hatten es da leicht. Sie spielten leidenschaftlich Fußball, schraubten an imposanten Motorrädern, bastelten respektable Modellflugzeuge, planten aufregende Reisen oder bauten repräsentative Gartenhäuser. All dies stand ihm nicht zur Verfügung. Dies konnte er nicht, jenes wollte er nicht, und was er gewollt und gekonnt hätte, das ließ er bleiben, damit es ihm nicht misslingen konnte. Bis in alle Ewigkeit ist Sisyphos verdammt." (S.17)

Auch das Abendessen bei den Nachbarn misslingt, da Stenger sich haltlos betrinkt - mit fatalen Folgen.

Die dritte Figur ist der Zivildienstleistende Stefan, der in einem Altenheim arbeitet und sich um Theodor Macke, eine alten Herrn mit "schleimigen Altmännerphantasien" (S.31) kümmert.
Stefan ist ein Einzelgänger, ein Junge, der in seiner Kindheit wenig Liebe erfahren hat und sich in der Gegenwart der Alten gebraucht und geborgen fühlt. Doch dann macht er eine Dummheit und glaubt, er müsse fliehen. Mit dem Fahrrad macht er sich auf den Weg.

Genau wie Stenger nach dem katastrophalen Abend mit den Nachbarn in sein Auto steigt und davon  fährt.

Bewertung
Drei Menschen, die an einer Wegkreuzung stehen und weglaufen wollen, die ihren Weg suchen und Möglichkeiten ausloten und dann überraschend zusammen treffen.
Da der Roman jeweils aus der personalen Perspektive dieser Personen erzählt wird, taucht man als Leser*in intensiv in die jeweilige Gedankenwelt ein. Dem Autor gelingt es ein stimmiges Bild der Gefühlswelt der Figuren zu zeichnen - sehr authentisch die Situation, als Stenger im Bad betrunken versucht, die Richtung wieder zu finden. Die Sprache ist teilweise etwas überladen, aber immer wieder finden sich originelle Bilder und eindringliche Aussagen, die nur manchmal zu plakativ daherkommen. Insgesamt eine sehr positive Überraschung, eine unterhaltsame Novelle, die nachdenklich macht und ganz wunderbar das positive Gefühl beim Laufen beschreibt.

Die Schlüsselszene für mich ist, als Stefan und der alte Macke einmal zufällig Lydia und Sulla beobachten. Sulla, die ihrer Freundin zeigen will, dass man immer die Wahl hat - bei jeder Entscheidung. Dieses Gespräch geht Lydia beim Laufen durch den Kopf - "etwas anderes machen, das ganz andere".

Eine positive Überraschung!



Samstag, 11. November 2017

Julia Wolf: Walter Nowak bleibt liegen

- Innenansichten eines Fossils.

Leserunde auf whatchareadin

Gebundene Ausgabe, 160 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt, 7. März 2017

Vielen Dank an den Verlag für das Leseexemplar.

Inhalt

Walter Nowak liegt im Badzimmer, unbeweglich. Seine Frau Yvonne ist auf einer Tagung und kommt hoffentlich wieder.

"Seitdem ich Yvonne kenne, war ich noch nie länger, wir waren noch nie länger als länger als zwei Tage getrennt. Das ist nun wirklich. Kein Beinbruch, das ist kein Weltuntergang. Das lässt sich alles erklären, Yvonne wird es verstehen. Ich erzähle es ihr. Wo fange ich an?" (S. 5)

Der Roman ist ausschließlich im Gedankenstrom aus Walters Perspektive verfasst, was eine besondere Dynamik erzeugt und einen tiefen Einblick in die Welt dieses 68-jährigen Mannes ermöglicht. Wie eine Diskussionsteilnehmerin in der Leserunde so treffend bemerkt hat, gleichen die Sätze einer "Stickarbeit".

Walter erzählt (allerdings im Präsens, was zu Beginn verwirrt), wie er wie jeden Morgen ins Schwimmbad gefahren ist, um seine Bahnen zu ziehen und beim Anblick einer jungen Frau mit Pferdeschwanz - eine Frisur, die schon seine Mutter getragen hat und die ihn schwach werden lässt - verfehlt er das Ende der Bahn und knallt gegen den Beckenrand.
Ein Kopfverletzung, die ihn zunehmend verwirrter werden lässt. Wann genau er im Bad liegen bleibt und sich das abspielt, was er vor den Augen der Leser*innen ausbreitet, darüber haben wir auch diskutiert. Letztlich ist die Chronologie der Ereignisse weniger wichtig als das Leben selbst, von dem Walter erzählt.
Von seiner Kindheit als Bastard und dem Wunsch Elvis (der eine Zeit lang in Walters Heimatstadt stationiert gewesen ist) sei sein Vater. Von der Ablehnung seines Großvaters, der den ungeliebten Enkelsohn los werden will.

"Mein Großvater hat mich einmal, der hat mich zweimal, hat mich verdroschen, wann es nur ging. Doch irgendwann. Hielt ich die Axt in der Hand. Danach war Schluss mit den Schlägen." (S. 48)

Er erinnert sich an die Ausgrenzung, die er in der Schule und von Mitschülern erfahren hat - bis auf einen, dessen Tod für ihn ein einschneidendes Erlebnis ist.
Walter stellt sich den Leser*innen als Mann dar, der seine Probleme verdrängt, statt sie sie aufzuarbeiten.

"Der Paartherapeut, dieser Idiot. Ich bitte Sie, ich bin ein erwachsener Mann, ich werde jetzt nicht anfangen, ich werde Ihnen jetzt nicht vorheulen, wie schlimm meine Kindheit war. Meine Mutter hat alles getan, das war eine andere Zeit. Sie hat getan, was in ihrer Macht stand." (S.13)

Ein Selfmade-Man, der stolz auf das ist, was er erreicht hat.

"Wer schläft denn bis zwölf. Das ist nicht der Igel, das bin doch nicht ich. Wer bis zwölf Uhr schläft, erreicht nicht, was ich errecht habe. Der boxt sich nicht durch, macht nicht die mittlere Reife. Der findet keine Lehrstelle beim besten Meister. Wer bis zwölf schläft, kann die Lehre vergessen, der wird nicht Elektriker. Erlangt nicht die Gunst seines Chefs. Wer bis zwölf Uhr schläft, übernimmt keine Firma. Arbeitet nicht wie besessen, revolutioniert nicht den Markt." (S.52)

Der aber kein Verständnis für seinen Sohn Felix hat, der nicht in seine Fußstapfen treten will und zu dem er keine Beziehung aufbauen kann. Er selbst hat nie einen Vater kennen gelernt, begibt sich aber auch nicht auf Spurensuche - selbst als sein Sohn sich für seinen unbekannten Großvater interessiert, verweigert sich Walter. Eine gemeinsame Reise in die USA wird zur Katastrophe.

Seine erste Ehe scheitert, seine zweite Frau - Yvonne - ist 20 Jahre jünger, ein Umstand, auf den Walter stolz ist. Das positive Bild, das er zunächst von Yvonne zeichnet, erhält jedoch Kratzer.
Die Zeit, in der Yvonne abwesend ist, gerät zum Desaster. Walter richtet ein heilloses Chaos im Haus an und es entsteht zunehmend der Eindruck, als habe er Erinnerungslücken. Immer wieder wandern seine Gedanken zur seiner Untersuchung - offensichtlich steht er vor einer Prostataoperation - ein Angriff auf seine Männlichkeit. Und es bleibt die Frage, warum er im Bad am Boden liegt, die sich erst ganz am Ende beantwortet.


Bewertung
Der Roman zeichnet das Psychogramm eines älteren Mannes, der sein Leben lang seine Problem verdrängt hat und die jetzt, da er unbeweglich zum Nachdenken gezwungen ist, auf ihn einströmen. Der fehlende Vater, die Ausgrenzung, die Nähe zur Mutter, die Untreue seiner ersten Frau gegenüber, die er völlig verdrängt hat. Empathie ist wahrlich nicht seine Stärke.
Sein Denken wird von Vorurteilen geprägt, von festen Glaubenssätzen, was sein darf und was nicht - Fitness, gut auszusehen im Alter, gehört für ihn unbedingt dazu. Er muss sich immerzu beweisen.
Seine Geilheit ist auch ein Tatsache, die er verdrängt, sie hat ihn in die unglückselige Situation im Bad gebracht, aber er kann natürlich alles erklären.
In seiner Erinnerung taucht immer wieder sein Sohn auf, die Enttäuschung, dass er einen Beruf erlernt hat, der eines Mannes nicht würdig ist. Walter ist wirklich ein Mann vom alten Schlag. Mehrfach waren wir uns in der Diskussionsrunde einig, er sei ein Fossil, einer Generation angehörig, die am Aussterben ist.
Der Gedankenfluss wirkt dabei völlig authentisch, die Figur ist stimmig und glaubwürdig.

Eine sehr interessante Komposition, in der - wie in einem Puzzle - das Lebens dieses gescheiterten und bemitleidenswerten - auch darüber gab es unterschiedliche Ansichten - Mannes Schritt für Schritt zusammengesetzt wird, so dass am Ende eine Gesamtbild vor den Leser*innen ausgebreitet ist.
Was aus Walter wird? Das bleibt offen, zu befürchten ist, dass Yvonne ihren eigenen Weg gehen wird.

Ein Roman, der mit seiner außergewöhnlichen Sprache und der Stimmigkeit der Figur auch den Deutschen Buchpreis verdient hätte.

Sonntag, 5. November 2017

John Banville: Die See

Man Booker Prize 2005

Kleine Leserunde bei whatchareadin

Gebundene Ausgabe, 224 Seiten
Kiepenheuer&Witsch, 15. August 2006


Inhalt
Max Morden kehrt an einen Ort (Ballyless) seiner Kindheit, an "Die See" zurück. Dort hat er immer seine Ferien in einem kleinen Chalet gemeinsam mit seinen Eltern verbracht.

"Wir kamen jeden Sommer im Urlaub hierher, viele Jahre lang, viele Jahre, bis mein Vater uns sitzen ließ und nach England ging, wie Väter es bisweilen taten, damals und eigentlich auch noch heute. Das Chalet war ein klassisches Holzhaus nur in verkleinertem Maßstab." (S.33)

Auslöser für die Rückkehr ist der Tod seiner Frau Anna, die nach schwerer Krankheit von ihm geht und um die er trauert.

Aus der Ich-Perspektive von Max werden in verschiedenen Zeitebenen die Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse wach.
Manchmal springt der Ich-Erzähler unvermittelt von der Gegenwart in die Vergangenheit, wobei die Gedanken inhaltlich zusammengehören.
Auch innerhalb dessen, was geschehen ist, erinnert er sich nicht chronologisch. So setzt sich wie ein Puzzle die Vergangenheit - ein Sommer an der See, den Max als Junge erlebt hat -  Schritt für Schritt zusammen, was er als Erzähler selbst kommentiert:

"Und warum sollte ich mich wohl, anders als jeder dahergelaufene Melodramatiker, der Forderung verschließen, dass die Geschichte zum Schluss noch eine ordentlich überraschende Wendung braucht?" (S.196)

Eine große Bedeutung kommt in jenem längst vergangenen Sommer der Familie Grace zu. Bestehend aus den Eltern Carlo und Conny und den Zwillingen: der stumme Myles und die knabenhafte Chloe, sowie der Gouvernante Rose, die in die Villa "Zu den Zedern" einziehen. Ihre gesellschaftliche Stellung, die der Max´ überlegen ist, übt auf ihn eine besondere Faszination aus.

An jenen Ort kehrt auch der Witwer Max zurück.

"Die Villa heißt Zu den Zedern, wie eh und je." (S.9)

Inzwischen ist es eine Pension, geleitet von Miss Vavasour und dauerhaft bewohnt vom alten Colonel Blunden.
Max Tochter Claire begleitet ihn zunächst an die See. Einerseits liebt er sie, andererseits scheint er auch von ihr enttäuscht zu sein, da sie keine zweite Anna ist, und äußert sich abfällig über sie.

Außergewöhnlich gut gelingt es Banville die Atmosphäre, die Präsenz der See erlebbar zu machen, sie ist allgegenwärtig, man schmeckt sie, fühlt den Wind und hört die Wellen.

"An der See besteht alles aus schmalen Waagerechten, die ganze Welt reduziert sich auf ein paar lange, gerade, zwischen Erde und Himmel gezwängte Linien." (S.14)

Und man kann sich in die Gedanken und die erotischen Träume des 11-jährigen Max hineinversetzen, die sich zunächst um Conny Grace drehen, dann aber von der Mutter auf die Tochter übergehen.
Mit Chloe wird er zur eigenständigen Person, entdeckt zum ersten Mal sich selbst.

"Indem sie mich von der Welt loslöste und mich dadurch erkennen ließ, dass ich ein losgelöstes Wesen war, schloss sie mich von dem Gefühl der Immanenz allen Seins aus, von dem Allsein, das mich umfangen hatte, in dem ich bis dahin in mehr oder minder glücklicher Unwissenheit gelebt hatte." (S.142)

Neben diesen Erinnerungen an das, was in dem Sommer geschehen ist, wandern Max´ Gedanken immer wieder zur gemeinsamen Vergangenheit mit Anna. Wie sie sich kennen gelernt haben, ihre Heirat, die Beziehung zu ihrem Vater, wie sie von ihrer Krankheit erfahren haben und zu ihrem Tod und seiner Hilflosigkeit.

"Wir tragen die Toten nur so lange bei uns, bis wir selber sterben, und dann sind wir diejenigen, die eine kleine Weile mit herumgetragen werden, und dann ist es an denen, die uns tragen, selbst umzufallen und so geht es immer weiter, von Generation zu Generation, bis in unvorstellbare Ewigkeiten." (S.100)

Die Identitätssuche des Protagonisten ist meines Erachtens der Mittelpunkt des Romans. Max hinterfragt sein Handeln, reflektiert sein Verhalten und gelangt zu Erkenntnissen über sich selbst.
Den Fragen, wer er sein will, wer er geworden ist und welche Bedeutung Anna und die Ereignisse um Chloe in seinem Leben gespielt haben, nähert er sich langsam an.

"Früher habe ich mich  stets als eine Art Freibeuter gesehen, einen der jedermann mit dem Entermesser zwischen den Zähnen begegnet, aber heute muss ich eingestehen, dass das eine Selbsttäuschung war. Versteckt, beschützt, behütet sein, mehr habe im Grunde nicht gewollt." (S.54)

Bewertung
Über den Charakter des Protagonisten haben wir in der Leserunde am meisten diskutiert. Ist Max sympathisch? Zumindest ist er ein ambivalenter Charakter, der sehr darunter leidet, in eine Gesellschaftsschicht hinein geboren zu sein, in der er sich nicht zugehörig fühlt. Die Bekanntschaft mit den Graces führt ihm vor Augen, was er sein will und wohin er möchte. Insofern ist seine Heirat mit Anna, die aufgrund der illegalen Geschäften ihres Vaters Geld zur Verfügung hat, opportunistisch, andererseits liebt er sie und verzweifelt an ihrem Tod zutiefst.

Letztlich ist die Frage nach der Sympathie zweitrangig. Die Auseinandersetzung mit seinem Leben, die Suche nach Identität, das Rätsel um jene schrecklichen Ereignisse, die an der See geschehen sind, die Beziehung der Figuren zueinander in jenem Sommer, die Schritt für Schritt aufgedeckt werden, erzeugen einen Lese-Sog - trotz der Reflexionen und der Sprünge zwischen und innerhalb der Zeitebenen.
Die außergewöhnliche bilderreiche Sprache lädt dagegen immer wieder dazu ein innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken.

Ein besonderer Roman und sicherlich nicht der letzte, den ich von John Banville gelesen habe. Vielen Dank an Literaturhexle, die mich auf die Leserunde aufmerksam gemacht hat und die genau wie ich von der wunderbaren Sprache des Romans angetan ist.