Montag, 15. Januar 2018

Bernhard Schlink: Olga

- die Geschichte einer starken Frau.

Leserunde auf whatchareadin

Taschenbuch, 320 Seiten
Diogenes, 12. Januar 2018

Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" ist inzwischen fast schon ein Klassiker, der seit Jahren Einzug in die Schulen gehalten hat. Er gehört zu einem meiner Favoriten in der Kategorie "Gegen das Vergessen", ebenso wie ich seine Erzählungen "Liebesfluchten" besonders mag.
Daher war ich umso gespannter auf seinen neuesten Roman und habe mit Freude an der intensiven Leserunde teilgenommen.

Vielen Dank an Diogenes für das Leseexemplar.


Worum geht es?

"Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut." (S. 5)

So charakterisiert Olgas Mutter die Einjährige und im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass diese Zuschreibung teilweise zutreffend ist. Den Spielen der anderen Kinder, die rauh sind und in denen man sich behaupten muss, geht sie aus dem Weg. Sie wächst in Armut auf, die Eltern sterben früh, so dass sie als junges Mädchen von Breslau zu ihrer Großmutter nach Pommern muss, obwohl sie lieber bei der ihr zugewandten Nachbarin geblieben wäre.
Die Großmutter würde ihr gerne einen deutschen statt des slawischen Namens geben, doch Olga setzt sich durch und beharrt auf ihrem Namen - sie besteht auf ihrem Willen.
Ihre Großmutter bringt ihr nur wenig Liebe entgegen, doch sie findet im Dorf einen anderen Außenseiter - einen Kontrapunkt zu ihrem Charakter:

"Kaum konnte er stehen, wollte er auch schon laufen." (S.13)

Herberts Eltern sind reich, besitzen ein Gut und sind im Dorf hoch angesehen, das entfremdet ihn genau wie seine Schwester Victoria von den anderen Kindern. Er braucht diese nicht zum Laufen, die für ihn einzig wahre Bewegung.

"Er hörte das Keuchen seines Atems und spürte das Pochen seines Herzens. Er hörte seine Füße auf den Boden schlagen, gleichmäßig, sicher, leicht, und in jedem Aufschlagen lag schon das Abheben, und in jedem Abheben ein Schweben. Manchmal war ihm, als flöge er." (S.16)

Neben der Leidenschaft für das Laufen ist Herbert stolz auf "das junge Reich und den jungen Kaiser" (S.17) - die Handlung spielt Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Kinder aus den unterschiedlichen sozialen Schichten freunden sich an, da sie jeweils einsam sind - ein wichtiges Thema dieses Romans, ebenso wie Olgas unbändiger Wille zu lernen, denn sie will das Unmögliche schaffen, um auf das staatliche Lehrerinnenseminar in Posen zu gehen. Dank einer freundlichen Lehrerin gelingt ihr die Aufnahmeprüfung und ihr Traum, Volksschullehrerin zu werden, verwirklicht sich. Gleichzeitig wird Herbert von seinen Hauslehrern auf das Abitur vorbereitet, damit er ins Garderegiment eintreten kann, und Victoria besucht ein Internat.

Aus der ungewohnten Zweisamkeit entwickelt sich zwischen Olga und Herbert eine tiefe Zuneigung, die in Liebe mündet.

"Sie blickten einander in die Augen und waren nur Auge und Seele. Sie machten den Blick nicht lösen und wieder die gewohnte Olga und der gewohnte Herbert sein." (S.39)

Ohne viel vorwegzunehmen, ist es eine Liebe, die für Olga Warten, Hoffen und Einsamkeit bedeutet. Eine Heirat ist aufgrund der unterschiedlichen sozialen Herkunft  nur möglich, wenn Herbert mit seiner Familie brechen würde. Statt dessen flieht er.

"Er beschloss, ein Übermensch zu werden, nicht zu rasten und nicht zu ruhen, Deutschland groß zu machen und mit Deutschland groß zu werden, auch wenn es ihm Grausamkeit gegen sich und gegen andere abverlange." (S.43)

Eine Einstellung, die Olga ablehnt, die die Gefahren voraussieht, die mit dem Wunsch nach Deutschlands Größe verbunden sind. Während Herbert in die deutschen Kolonien in Afrika - Deutsch-Südwest - reist, wird Olga nach Ostpreußen, nördlich von Tilsit versetzt. Seine Schilderungen über die Schwarzen, über die deutsche Überlegenheit weisen bereits auf den Rassenwahn der Nationalsozialisten hin, dabei entlarvt er sich selbst, wenn er zugibt, keinem der Herero wirklich nahe gekommen zu sein. In ihrer Liebe verzeiht Olga ihm diese Grausamkeiten, ebenso wie seine vielen Expeditionen - nach Südamerika, Sibirien und schließlich zieht es ihn in die Arktis. Er will die Nordostpassage entdecken. Dazwischen besucht er immer wieder Olga, eine heimliche Liebe.

"Sie sah, dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Manns erinnerte." (S.79)

Auf ihre Frage, was er in der Arktis wolle, gibt sie sich selbst die Antwort:

"Die Weite? Die Weite ohne Ende? Ist es das?" (S.85),
gleichzeitig ist ihr bewusst, "dass ihr Leben Warten sei und dass das Warten kein Ziel, kein Ende habe." (S.84)

Das Lied der Nachtigall, das sie während des Gesprächs hören, erinnert an "Der Spinnerin Nachtlied" von Brentano, auch diese trauert dem Geliebten, der von ihr gegangen ist, nach und erinnert sich an die glücklichen Stunden, die sie gemeinsam verbracht haben.

Etwas Trost findet Olga, nachdem Herbert seine Expedition begonnen hat, in der Fürsorge für Eik, den Sohn ihrer Freundin, um den sie sich liebevoll kümmert und der in seinen Verhaltensweisen auffällig an Herber erinnert.

Die Ereignisse von 1914 bis zu Beginn der 50er Jahre werden stark gerafft wiedergegeben. Während Herbert in der Arktis verschollen ist und Eik sich zum Entsetzen Olgas zur SS meldet, verliert sie ihr Gehör, wird entlassen und flieht während des 2.Weltkrieges nach Westen, wo sie sich ihr Geld als Näherin verdient.

"Dann nähte sie nur noch in unserer Familie, in der sie sich besonders willkommen fühlte; was sie hier verdiente, reichte ihr als Zubrot." (S.113)

Mit dem Wechsel der Erzählperspektive vom eher distanzierten Erzähler zum Ich-Erzähler endet der 1.Teil.
Im 2.Teil wird deutlich, dass Ferdinand, der Jüngste jener Familie, Olgas Geschichte, die sie ihm im Laufe der Zeit offenbart hat, "erzählt" hat.
Zwischen den beiden entsteht eine innige Freundschaft und dieses Mal stellt Fräulein Olga Rinke Herbert nicht als Helden dar - wie sie es bei Eik getan hat, sondern so, wie er tatsächlich gewesen ist.
Auch als Ferdinand erwachsen wird, bleibt die Freundschaft bestehen, und als Olga stirbt und er alt ist, findet er in einem Antiquariat die Briefe, die Olga Herbert nach Tromsö geschickt hat, während dieser im ewigen Eis unterwegs war.

Die Briefe bilden den 3.Teil und geben Antworten auf offene Fragen, die im II.Teil aufkommen. Und sie zeigen die liebende, die leidenschaftliche Olga unvermittelt.

"Ich liebe Deine Fähigkeit, Dich zu begeistern, Dich zu verschwenden, Dein Herz über die Hürde zu werfen, ich liebe Dein Leuchten." (S.224)

In den Briefen kommt all das bisher Ungesagte zum Ausdruck, sie werfen auf einige Ereignisse ein neues Licht und verdeutlichen, welch starke und selbstbewusste Frau Olga gewesen ist - für mich der beste Teil des Romans.

Bewertung

Die hohen Erwartungen, die ich an den Roman hatte, sind nicht enttäuscht worden. Ist der Beginn aufgrund der Erzählweise sehr distanziert - wörtliche Rede findet man nur an wenigen Stellen - bringt uns der Ich-Erzähler im 2.Teil Olga näher. Die Briefe im 3.Teil offenbaren uns die "wahre" Olga - unverstellt und unvermittelt. Diese Steigerung erzeugt genau wie die offenen Fragen aus dem 2.Teil einen Sog, so dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen kann.
Die Geschichte dieser starken Frau, die trotz der Widerstände, die sie erfahren hat, ihren Weg selbstbewusst geht, Lehrerin wird und an ihrer Liebe festhält, die Einsamkeit in Kauf nimmt und nicht daran verzweifelt, ist berührend.
Olga vertritt sehr fortschrittliche Ansichten, sie wehrt sich gegen die Diskriminierung als Frau, liebt ohne Trauschein und schätzt an Friedhöfen, dass "hier alle gleich waren" (S.145).

Kritisch steht sie der deutschen Kolonialpolitik gegenüber, so schreibt sie im April 1914 an Herbert:

"Keine Woche, in der ich nicht von Deutschlands Zukunft auf den Meeren und in Afrika und Asien lese, vom Wert unserer Kolonien, von der Stärke unserer Flotte und unseres Heeres, von Deutschlands Größe, als seien wir aus unserem Land herausgewachsen, wie man aus einem Gewand herauswächst, und brauchten ein größeres." (S.258)

Ihre Kritik äußerst sie auch gegenüber dem Nationalsozialismus, mit Eik bricht sie, weil er zur SS geht, sie kann die Grausamkeiten, zu denen er fähig sein muss, nicht ertragen.
Im Alter wird sie ihrer Einstellung vehement Ausdruck verleihen und einen "Kontrapunkt zur Melodie ihres Lebens" (S.311) setzen. Ein starkes Ende!

Ein Kontrapunkt in ihrem Leben ist auch Herbert, der die Weite, die Leere liebt, während sie in der Enge ihres Dorfes am glücklichsten gewesen sein mag. Erst im Westen Deutschlands am Neckar erweitert sie ihren Horizont - gemeinsam mit Ferdinand. Worauf diese innige "Enkel-Oma-Beziehung" beruht, bleibt eine der wenigen Fragen, die der Roman am Ende nicht beantwortet.

Insgesamt ein sehr guter Roman, der mir neben der interessanten Geschichte über eine starke Frau auch aufgrund seiner Komposition und Sprache gefallen hat.

Klare Lese-Empfehlung.