Montag, 30. April 2018

Susanne Jansson: Opfermoor

- spannender, atmosphärischer Krimi aus Schweden.



Wer meinen Blog verfolgt, wird bemerken, dass sich in letzter Zeit die Krimis häufen. In Stress-Zeiten sind sie eine willkommene Ablenkung, aber das wird sich demnächst hoffentlich wieder ändern. Diesen Roman hat meine Tochter für mich ausgesucht, die meine Vorliebe für skandinavische, etwas mysteriöse Krimis kennt.
Das Cover wird auch eine Rolle gespielt haben ;)


Worum geht es?

"Die Wahrheit über die tatsächlichen Ereignisse in diesem Haus löste sich ohnehin recht bald auf." (9)

Nathalie Ström, 26 Jahre alt und Biologin, kehrt nach 14 Jahren nach Mossmarken zurück. Angeblich, weil sie für ihre Doktorarbeit im Hochmoor Messungen durchführen möchte.

Das Moor hat eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil ebenfalls vor 14 Jahren - im Jahr 2002 - dort die Leiche eines jungen Mädchens aus der Eisenzeit entdeckt wurde - das Preiselbeermädchen. Eine Opfergabe an das Moor.

In der Folge dieser Entdeckung hat es auch in Nathalies Leben ein bedeutendes Ereignis gegeben, dass sie dazu veranlasst hat, den Ort ihrer Kindheit zu verlassen und neu anzufangen.

"Im Laufe der Zeit richtete sie ihr Dasein immer mehr darauf aus, Experimente zu planen und sich in Forschungsverläufe zu vertiefen. Diese Tätigkeit versetzte sie jedoch nicht nur in Freude und Aufregung, sondern in einen Zustand äußerster Gelassenheit. (...) Ein Sicherheitsnetz aus fundamentalen Axiomen und einer erfreulich überschaubaren Komplexität fing sie nach all den unbegreiflichen Ereignissen, die ihre Kindheit zerstört hatten, auf." (S.43)

Sie mietet ein kleines Haus, das zum Gutsbesitz Mossmarken gehört, und richtet sich in der Einsamkeit ein, bis sie den Kunststudenten Johannes kennen lernt, der jeden Morgen an ihrer Hütte vorbei läuft - hinein ins Moor. Er bietet ihr an, sie bei den Messungen zu unterstützen und zu ihrem eigenen Erstaunen nimmt sie an.
Dann wird Johannes im Moor niedergeschlagen, was wir bereits im Prolog lesen können, und Nathalie findet ihn, bevor er versinkt. In seiner Tasche wird ein Beutel mi 100 Zehnkronestücken gefunden. Sollte er geopfert werden?

Inspektor Leif Berggren nimmt die Ermittlungen auf und wird dabei von der bekannten Fotografin Maya Lindes unterstützt, die auch aus der Gegend stammt und nebenberuflich als Polizeifotografin arbeitet.
Unter dem Vorwand Porträts von den Anwohnern zu machen, lernt sie die Menschen, die um das Moor leben, kennen - auch den skurrilen Göran, der fest an Gespenster glaubt und beweisen kann, dass in den letzten Jahren bereits mehrere Menschen im Moor verschwunden sind.

Durch einen Zufall entdeckt Maya tatsächlich einen der Verschwunden im Moor, in dessen Taschen ebenfalls ein Beutel mit Zehnkronenstücken gefunden wird.
Während Maya und Leif nach Verdächtigen fahnden, verbringt Nathalie viel Zeit im Krankenhaus, am Bett von Johannes, der im Koma liegt und tastet sich Schritt für Schritt in ihre eigene Vergangenheit zurück, die mit den Opfermorden zusammenhängt.

Bewertung
Eine in vielerlei Hinsicht lohnende Lektüre:

- Spannung pur, vor allem im letzten Drittel fiel es mir schwer, den Krimi aus der Hand zu legen.
- Unerwartete Wendung am Ende, die aber völlig schlüssig ist.
- Interessante Informationen über Moore und deren historische und geologische Bedeutung.
- Ich habe viel über die Konservierung von Moorleichen gelernt.
- Philosophische Diskussionen, die ich leider aufgrund der zunehmenden Spannung querlesen musste ;)

Vielen Dank an das Bloggerportal für das Lese-Exemplar.

Buchdaten
Taschenbuch, 320 Seiten
C.Bertelsmann, 2018

Donnerstag, 26. April 2018

Judith Hermann: Alice

- fünf Erzählungen über das Sterben.

Lesen mit Mira

"Es hatte sich so ergeben, daß Micha in Zweibrücken im Sterben lag. Zwei Brücken, für Alice klang das poetisch, war aber ein schiefes Bild, weil es für den Sterbenden, wenn überhaupt, doch nur eine Brücke gab." (8)

Alle fünf Erzählung haben als Titel den Namen des Mannes, der in der Erzählung stirbt oder bereits gestorben ist. Zu all diesen Männern hat Alice einen Bezug. Über ihre Auseinandersetzung mit dem Tod erschließt sich für uns ein Bild von Alice vage bleibt - typisch für Judith Hermann, von der ich vor langer Zeit die Erzählungen "Sommerhaus, später" gelesen habe. Die Leser*innen sind gefordert die Lücken selbst zu füllen und sich mit dieser Frauenfigur  und deren Begegnungen mit dem Tod auseinander zu setzen.

Micha
"Die Geschichte zwischen Micha und Alice war zu lange her, um irgendein Recht behaupten zu können." (14)
Micha hat Krebs im Endstadium und liegt im Krankenhaus in Zweibrücken, weit weg von seinem Wohnort Berlin. Maja, seine derzeitige Lebensgefährtin, bittet Alice um Hilfe. Mit einem Kleinkind, das noch nicht laufen kann, gelingt es ihr nicht die Situation vor Ort zu meistern.
Dass Alice kommt und sich um Majas Kind kümmert, ihr beim Umzug in eine größere Wohnung hilft, Micha im Krankenhaus besucht und da ist, zeigt ihre Hilfsbereitschaft, Empathie und auch, dass Alice ihn einmal sehr geliebt haben muss.
Wenn Hermann die Wohnung beschreibt, in die die beiden Frauen und das Kind umziehen, sowie die beiden Vermieter, gelingt es ihr in wenigen Sätzen deren ebenso Spießigkeit einzufangen wie die Zudringlichkeit des Mannes.

"Sie drehte probehalber den Wasserhahn auf und wieder zu, dann stand der Mann hinter ihr. Er umfaßte sie, legte seine Hände um ihre Hüften und zog sie an sich ran, er hielt sie so, dann schob er sie zur Seite, ließ los. Er sagte, die Tabletten für den Geschirrspülautomaten sind hier unter der Spüle, deutete irgendwohin." (24)

Conrad
In der 2.Geschichte besucht Alice gemeinsam mit ihrer Freundin Anna und dem Rumänen, Conrad und dessen Frau Lotte am Gardasee. Die beiden sind über "ein Vierteljahrhundert älter als Alice" (53), woher sie sich kennen, wird nicht erzählt. Conrad hat Alice mit ihren Freunden eingeladen, ist jedoch krank, als sie ankommen. Man ahnt schon, dass auch Conrad sterben wird.

Die Begegnungen zwischen Alice und den Sterbenden verlaufen fast alle schweigend, doch die beschriebenen Gesten offenbaren die Gefühle und sprechen das Unsagbare aus:

"Conrad hob die Hand und berührte Alice Gesicht. Er hatte das noch nie getan. Er legte den Rücken seiner Hand kurz an Alice Wange, kniff sie leicht, als wäre sie ein Kind. Er sagte nachdenklich, weißt du, ich habe gedacht, ich wäre unverwundbar. Das habe ich gedacht." (78)

Und Alice fragt sich, wie Micha und Conrad im Leben gewesen waren, was bleibt von ihnen, wenn sie gestorben sind?

Richard
Alice hat inzwischen einen Lebensgefährten - die Erzählungen sind chronologisch geordnet - Raymond, der in der letzten Erzählung, die seinen Namen trägt, gestorben sein wird.

Richard ist der Mann einer Freundin, der im Sterben liegt und den Alice besuchen will.

Hermanns Sprache kommt fast ohne Adjektive aus, in kurzen, knappen - oft unvollständigen Sätzen gelingt es ihr die Atmosphäre eines Ortes einzufangen, die die innere Befindlichkeit der Figuren widerspiegelt.

"Eine Straße im Juni an einem Samstagnachmittag, Alice fand die Straße sonntäglich, etwas daran erinnerte sie an die Sonntag ihrer Kindheit, an die langgezogenen, von irgendwas pulsierenden Sonntage im Sommer, so als wäre immer alles kurz vor einem Gewitter gewesen. Darauf warten. Auf das Gewitter warten." (104)
"Das Haus, in dem Richard lebte, stand auf der rechten Seite der Straße. Die rechte Seite lag im Schatten. Alice sah zu Richards geschlossenen Fenstern hoch und dachte, in einem Bett in einem Zimmer dieser Wohnung in diesem in dieser Straße liegt einer, den ich kenne, und stirbt." (104)

Warten auf den Tod und ein letzter Besuch, so könnte man die ersten drei Erzählungen überschreiben. Daneben stellt sich Alice die Frage, ob sie im Angesicht des Todes, alles anders hätte machen sollen. Weil so schnell vorbei sein kann.

In den letzten beiden Erzählungen setzt sich Alice mit dem Tod von Malte, einem Onkel, den sie nie kennen gelernt hat und der Selbstmord begangen hat, und dem Tod Raymonds auseinander.
Alice weiß nicht, warum Malte sich das Leben genommen hat, aber sie ist auf der Suche nach Antworten und bittet einen alten Freund Maltes um ein Treffen. Sie will aufräumen mit ihren Vermutungen.

"Diese Vermutung fallenlassen, sich statt dessen eine andere suchen. Zusammenhänge erkennen oder erkennen daß es gar keine Zusammenhänge gab. Nur vermeintliche Beziehungen. Täuschungen, wie Spiegelungen, nichts anderes als der Wechsel von Temperatur, Licht, Jahreszeiten." (136)

Die letzte Geschichte Raymond bringt uns Alice am nächsten. Nach seinem Tod räumt sie ebenfalls auf - seine Sachen aus der gemeinsamen Wohnung. Wenn sie bei einzelnen Kleidungsstücken verharrt, den Geruch einatmet - nicht ohne ironisch anzumerken, es sei "eine Geste aus dem Kino, aus Büchern" (160) und ungefragt Erinnerungen hochsteigen, liest man heraus, wie sehr sie diesen Mann geliebt haben muss. So sehr, dass sie eine Tüte mit einem abgebissenen Mandelhörnchen nicht wegwerfen kann.

"Da schien es auch Reihenfolgen zu geben, Zeit, die vergehen mußte. Erst finden, dann verstehen, dann wegwerfen. Abstand gewinnen." (164)

Am Ende stellt sich Alice erneut die Frage: Was bleibt übrig? Erinnerungen? Menschen, mit denen wir sie teilen?

Mich hat dieser Erzählband sehr berührt, da er leise und scheinbar ohne große Gefühle zu beschreiben, Begegnungen mit dem Tod schildert und kleine Ausschnitte aus dem Leben einer empathischen, hilfsbereiten, liebenswerten Frau offenbart.

Hier geht es zu Miras Rezension.

Buchdaten
Geschenkausgabe, 2012
Fischer Taschenbuch, 190 Seiten

Montag, 23. April 2018

Katrine Engberg: Krokodilwächter

- ein dänischer Psychothriller.

Als "Querleserin" gehören Kriminalromane zu einem meiner bevorzugten Genres - ich lese sie tatsächlich zur Entspannung. Aufgrund ihrer dramaturgischen Spannung kann ich wunderbar abtauchen und in die Abgründe der menschlichen Spezies eintauchen. Zu meine Favoriten gehören eindeutig die skandinavischen Krimis. Von Katrine Engberg habe ich bisher noch keinen Thriller gelesen, das puristische Cover, das mit den "Schnitten" schon einen Vorgeschmack auf den Fall gibt, haben mich so neugierig wie der Titel gemacht. Was ist ein Krokodilwächter?

"Ein kleiner Vogel, der von den Essensresten im Maul eines Krokodils lebt. Der Vogel erhält Nahrung, und dem Krokodil werden die Zähne gesäubert. Deshalb frisst es den Vogel nicht, und alle sind glücklich."(437)

Worum geht es?
Am 8.August, einem Mittwoch, findet Gregers, ein älterer Herr, die Leiche der jungen Julie Stender, die im selben Haus im Herzen Kopenhagens wohnt  - gemeinsam mit ihrer Freundin Caroline. Da die Wohnungstür offen steht, will Gregers nachsehen, ob bei den beiden jungen Frauen alles in Ordnung ist, und fällt auf einen Stapel Schuhe in den Flur hinein.

"In dem Schuh, der halb unter seiner alten, schmerzenden Hüfte lag, steckte ein Bein, das in einem verrenkten Körper endete. Es sah aus wie das Bein einer Schaufensterpuppe, aber Gregers spürte weiche Haut an seiner Hand. Er zuckte zusammen und zog die Hand hervor. Da war Blut. Nicht nur auf der Hand, sondern auch auf dem Boden, an den Wänden. Überall Blut." (S.12)

Die beiden Ermittler Jeppe Körner und Anette Werner nehmen sich dem Fall an. Seit Jahren arbeiten sie gern zusammen.

"Offenbar waren sie gemeinsam ein starkes Team, obwohl sie das beide gar nicht so wahrnahmen. (...) Er hielt sie für einen Bulldozer, und sie bezeichnete ihn als verzärtelt und old fashioned." (S.22)

Gemeinsam vernehmen zunächst die Besitzerin des Hauses, die im obersten Stockwerk wohnt: Esther de Laurenti, pensionierte Universitätsprofessorin im Bereich Literaturwissenschaft.

Seit sie im Ruhestand ist, verbringt sie ihre Freizeit mit Singen und Schreiben - und mit dem übermäßigen Konsum von Rotwein, wie ihr Untermieter Gregers ihr unverblümt mitteilt, als sie ihn im Krankenhaus besucht.
Seit vier Jahren hat sie einen Gesangslehrer, Kristoffer, mit dem sie inzwischen eine enge Freundschaft verbindet, er hilft ihr mit den Hunden, beim Haushalt und kümmert sich um sie. Er hat eine Karriere als Sänger aufgegeben, arbeitet stattdessen als Garderobier im Königlichen Theater. Bei der ersten Vernehmung entpuppt er sich als seltsam verschlossen, gibt aber zu, eine Beziehung mit Julie gehabt zu haben.

Julies Vater Christian Stender erleidet einen Zusammenbruch, als er vom Mord an seiner Tochter entfernt, trotzdem erregt er Jeppes Verdacht - irgendetwas an seinem Verhalten verhindert, dass Jeppe Empathie mit ihm empfindet.

Das Mordfall sorgt innerhalb der Polizei und in den Medien für Aufruhr, da der Täter in Julies Gesicht mit einem scharfen Messer ein Muster geschnitten hat.

"Es sieht aus, als hätte der Täter für uns eine kleine rätselhafte Nachricht ins Gesicht geritzt." (S.32)

Viel seltsamer ist die Tatsache, dass der Mord einem Manuskript zu folgen scheint, das Esther geschrieben hat und das auch im Roman zwischen den einzelnen Kapiteln zu lesen ist.
Veröffentlicht hat sie es in einer Schreibgruppe, die nur noch aus zwei weiteren Personen besteht, die scheinbar nichts mit dem Mord zu tun haben können? Wer hätte einen Zugriff auf das Manuskript haben können, in dem eine junge Frau einen Mann auf der Straße kennen lernt und den sie mit nach Hause nimmt.

Genau davon hatte Julie Esther erzählt und sie damit "zum ersten Teil des Krimis angeregt [...]. Und dann hat er sich vom zweiten Teil des Manuskripts zum Mord inspirieren lassen. Realität - Buch, Buch - Realität. Verwirrend." (S. 188)

Verwirrend bleibt der Krimi, denn es tauchen Details aus Julie Vergangenheit auf, die ein neues Licht auf den Fall werfen und lange kann man die Verbindung zwischen den einzelnen Fäden nicht sehen.

"Er konnte noch immer nicht das gesamte Bild überblicken, aber das war das Puzzleteilchen, das alles in Übereinstimmung brachte." (S. 474)

Bewertung
Ein spannender und intelligenter Thriller, der ab der Mitte einen solchen Sog entwickelt, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen will. Die Handlung ist komplex, viele Fäden scheinen zunächst ein verwirrendes Knäuel zu bilden, bis sich am Ende alles zu einem roten Faden spinnt, der uns in einen unglaublichen, menschlichen Abgrund blicken lässt.

Wie so oft in den skandinavischen Krimis spielen die Motive und die Psychologie des Täters eine große Rolle und stehen ebenso wie die Ermittler selbst im Mittelpunkt. Die einzelnen Figuren sind ausgearbeitet - keine bleibt oberflächlich. Dadurch, dass die Ermittlungsarbeit aus der personalen Perspektive Jeppes geschildert wird, erfahren wir von seinem Privatleben am meisten. Erscheint er zu Beginn als frustrierter, deprimierter Polizist, der unter seiner Scheidung leidet, überwindet er im Verlauf der Handlung teilweise seine Krise. Von Anette erfahren wir weniger, dass sie glücklich verheiratet ist, keine Kinder hat und sehr ungeduldig ist. Da auf der Buchrückseite verheißungsvoll angekündigt wird, dass dies der erste Fall "einer neuen Kopenhagen-Thriller-Serie" ist, dürfen wir auf weitere Details und spannende Fälle hoffen.

Im Krimi reflektiert Esther über das Schreiben eines Krimis:

"Einen Krim zu schreiben ist ungefähr ähnlich schwierig wie der Versuch, einen Zopf aus Spinnweben zu flechten: tausend Fäden kleben an den Fingern und reißen, wenn man sich nicht konzentriert." (S.333)

Die Fäden dieses Romans sind nicht gerissen - beste Krimi-Unterhaltung. Mehr davon!

Vielen Dank an den Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar. Hier geht es zur Verlagsseite, auf der Engberg in einem Video von ihrem Ermittlerduo erzählt.


Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 512 Seiten
Diogenes, 28.März 2018



Donnerstag, 19. April 2018

Karen-Susan Fessel: Mutter zieht aus

- der Verlust des Zuhauses.

Die Ich-Erzählerin schildert in der Biographie die Lebensstationen ihrer Mutter bis zum Auszug aus deren Haus in eine betreute Wohnanlage. Anlass für den Umzug ist ein Sturz, in dessen Folge Anke Fessel das Haus verlässt, in dem sie 34 Jahre gewohnt hat.

"Was bleibt von diesem gelebten Leben? Was nimmt meine Mutter mit aus diesem Haus, aus dieser Zeit? Was hinterlässt diese Generation alter Frauen?" (S.6)

Diese Fragen beantwortet Fessel im Lauf ihres Romans, denn es ist

"Zeit zurückzublicken. Und zugleich auch nach vorn . Bevor es zu spät ist." (S.6)


Dabei erzählt sie nicht chronologisch den Lebenweg von Anke Fessel geb. Wegener, nach, sondern springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, integriert Interviews mit ihrer Mutter, ein Bewerbungsschreiben und handschriftliche Notizen. So entsteht das authentische und sehr persönliche Bild einer Frau, das der Vita vieler Frauen der Kriegsgeneration gleicht.

Sie ist das zweitälteste Kind von 7 Geschwistern, das älteste Mädchen. Die Familie ist in Breslau ansässig, zieht 1940 nach Litzmannstadt, heute Lodz. 1944 fliehen sie vor den Russen über Stettin nach Wismar. Schließlich landen sie in Lübeck, wo der Vater, ein Arzt, eine Anstellung findet und Anke endlich wieder die Schule besuchen kann. Sie schließt mit der Mittleren Reife ab, obwohl sie gern Abitur gemacht hätte - ein Leben mit vielen Brüchen und aufgegebenen Träumen.

"Vielleicht gibt es kein einziges Leben, das glatt läuft, aber die Generation meines Vaters, erwachsen geworden nach dem Krieg, hatte nichts Solides, auf dem sich aufbauen ließ, kein ehernes Fundament, nur Trümmersteine und fragile Werte." (S.9)

Fessel setzt sich auch mit der Vergangenheit ihres Großvaters auseinander, der "durch und durch nationalsozialistisch geprägt" (S.23) und im NS-Ärztebund organisiert war und dessen Akte auch zur Kriegsverbrecher-Kommission der Vereinten Nationen weitergeleitet wurde, jedoch nie eine Anklage erhoben wurde.
Ihre Mutter, die mit ihren schwarzen Haaren nicht dem nationalsozialistischen Idealbild entsprochen hat, nimmt aus ihrer Kindheit ein Gefühl der Unzulänglichkeit mit, "Anke, unser Dummchen" (S.31) wurde sie genannt und ist bei der Flucht in Stettin auf dem Bahnhof fast "vergessen" worden. Ein Trauma, das tief sitzt.

Trotzdem hat sie sich zu einer optimistischen, fröhlichen Person entwickelt, die

 "lautstark auf sich aufmerksam [macht], damit sie nicht übersehen und vergessen wird" (S.77).

Der Roman zeichnet ein sehr persönliches Porträt ihrer Mutter, und auch ihres Vaters, und ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit. Der Verlust des Zuhauses, der Ort, an dem man als Kind unbeschwert gelebt hat, ist für die Ich-Erzählerin ein großer Einschnitt.

"Heimat verbinde ich ausschließlich mit diesem Haus. Noch habe ich keinen vergleichbaren Ort gefunden. Vielleicht finde ich ihn nie. Vielleicht finde ich ihn aber auch erst, wenn ich loslasse." (S.19)

Diesen geschützten Raum aufzugeben, erfordert den Mut zur Veränderung, den die Mutter aufzubringen bereit ist.

Bewertung
Der Roman hat mich auf sehr persönlicher Ebene angesprochen, da meine Großmutter mit 90 Jahre gerade ihr Zuhause verlässt und sich in eine betreute Wohnsituation begibt. Insofern kann ich viele Gedanken der Autorin nachvollziehen, obwohl noch eine Generation dazwischen liegt. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für Kinder sehr schwer ist, das Elternhaus zu verkaufen oder hinter sich zu lassen und zu akzeptieren, dass sie an den Ort ihrer Jugend nicht zurückkehren können. Für jene, die davon betroffen sind oder sich in einer ähnlichen Situation befinden, gibt die Biographie viele Denkanstöße.

Für alle anderen ist es eine lesenswerte

"Geschichte, exemplarisch für unzählige andere, für eine ganze Generation." (S.11)


Vielen Dank an den Verlag konkursbuch für das Lese-Exemplar und an meine Buchhändlerin, die mich auf den Roman aufmerksam gemacht hat.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 256 Seiten
konkursbuch, 16. Januar 2018

Donnerstag, 12. April 2018

Yrsa Sigurdardóttir: Das letzte Ritual

- ein Thriller aus Island.

Nachdem ich im letzten Jahr meinen ersten Roman der Isländerin gelesen habe, Geisterfjord, und mich dieser begeistert hat, steht auch in diesem Jahr mindestens ein Krimi aus dem hohen Norden auf dem Programm. War "Geisterfjord" eher mysteriös mit fantastischen Anteilen, beschäftigt sich "Das letzte Ritual" mit den realen Hexenverbrennungen in Island.

Worum geht es?
Ende Oktober 2005 findet Gunnar, Professor und Leiter der Historischen Fakultät der Universität Reykjavík, in einem der Büroräume früh morgens eine entsetzlich verunstaltete Männerleiche.
Es handelt sich um den deutschen Geschichtesstudenten Harald Guntlieb, der seine Masterarbeit in Island schreiben wollte.

Eine Woche später wird die Rechtsanwältin Dóra von dessen Mutter kontaktiert:

"Wir suchen jemanden, der den Fall noch einmal aufrollt, das Beweismaterial begutachtet und die Schlussfolgerungen der Polizei überprüft." (S.19)

Sollte sie den Auftrag annehmen, stehe ein fürstliches Gehalt in Aussicht, eine Tatsache, die die alleinerziehende Mutter zweier Kinder neben dem ungewöhnlichen Fall überzeugt.

Quelle wikipedia
Matthias Reich, der für die sehr wohlhabende Familie arbeitet, macht Dóra mit den Ermittlungen vertraut und soll ihr beiseite stehen. Er erzählt ihr auch von Haralds Interesse für "Hexenverfolgung. Folter und Hinrichtungen." (27) Seine Masterarbeit beschäftigte sich mit der erst im Vergleich zum Festland spät einsetzenden Hexenverfolgung in Island, dabei taucht immer wieder ein bestimmtes Buch auf: Malleus Maleficarum, "Hexenhammer",

"eines der berüchtigsten Bücher in der Geschichte der Menschheit. Es wurde erstmals 1486 als Handbuch für Inquisitoren herausgegeben. Diese sollten lernen, Hexen zu erkennen und anzuklagen." (S.46)

Harald hat sich für die Geschichte dieses Buches interessiert, das im Jahr 1486 in Speyer vom Dominikaner Heinrich Kramer veröffentlicht wurde und bis ins 17.Jahrhundert hinein in mehreren Auflagen erschienen ist. (wikipedia)

In den Ermittlungsakten, die sie von Matthias erhält, findet Dóra einige Ungereimtheiten:
Warum hält sich Harald auf Familienfotos immer etwas abseits? Dazu passt auch die unpersönliche Mail Haralds an seinen Vater.
Welches Verhältnis hatte er zu seiner behinderten Schwester?
Warum wurde er aus der Bundeswehr nach einem Einsatz im Kosovo entlassen?
Was hat es mit dem Geschichtsverein "Malleus Maleficarum" auf sich?
Was sucht ein Zeitungsartikel in den Unterlagen, in dem von sexuellen Würgespielen die Rede ist und davon, dass ein junger Mann dabei ums Leben gekommen ist?
Für welchen Gegenstand hat Harald 42 000 € bezahlt?

Es gibt auch Hinweise auf seine besten Freunde, darunter der Medizinstudent Halldór, mit dem er eine besonders enge Beziehung gehabt haben soll, wie sich in weiteren Gesprächen herausstellt.
Einer der Freunde Hugi sitzt als Tatverdächtiger im Gefängnis, da die beiden am fraglichen Abend gemeinsam eine Party verlassen haben und man Blut an Hugis Kleidern gefunden hat.

Die größten Rätsel gibt neben der Weigerung der Freunde, irgendetwas preiszugeben, die Leiche selbst auf. Harald wurde erstickt, die Augen wurden nach dem Tod entfernt und ihm wurde eine Schnittwunde in Form einer magischen Rune zugefügt.

Was hat sie zu bedeuten? Wurde er Opfer eines Hexenrituals? Welche Rolle spielen seine Freunde und das Thema seiner Master-Arbeit? Ist Hugi wirklich unschuldig? Und was hat es mit dem verschwundenen Dokument aus dem dänischen historischen Archiv auf sich, das Harald entwendet haben soll?

Spannende Fragen!

Bewertung
Im Gegensatz zu Geisterfjord taucht trotz der Hexensprüche und magischen Rituale nichts wirklich Mysteriöses auf. Eigentlich schade...
Statt dessen erfährt man vieles über die Hexenverfolgung in Europa, insbesondere in Island, über jenen berüchtigten "Hexenhammer" und die Wege, die ein solches Buch nehmen kann ;)

Im Mittelpunkt steht natürlich der ungewöhnliche Kriminialfall sowie die beiden sympathischen Protagonisten - die Rechtsanwältin Dóra und Matthias, die sich ebenfalls zu mögen scheinen. Man erfährt auch einiges über Dóras Familienleben und beim Lesen ist sie mir so ans Herz gewachsen, dass ich recherchieren werde, ob sie auch noch in einem anderen Roman Sigurdardóttirs ermittelt.

Spannende und interessante Unterhaltung.

Buchdaten
Taschenbuch, 383 Seiten
btb, 2006


Sonntag, 8. April 2018

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

- eine skurrile Familien - und Liebesgeschichte.

Der Roman ist eine Empfehlung meiner Buchhändlerin, die meinen Lesegeschmack inzwischen sehr gut kennt. Meine Lesefreundin Sabine hingegen hat die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, als ich ihr erzählt habe, dass ich das Buch gerade lese - zu skurril für ihren Geschmack. Die Meinungen sind also geteilt ;)

Worum geht es?
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Luise, aus deren Ich-Perspektive der Roman erzählt wird.
Zu Beginn, im Jahr 1983 ist sie 10 Jahre alt und ihre Oma Selma hat in der Nacht von einem Okapi geträumt.

"Das Okapi ist ein abwegiges Tier, viel abwegiger als der Tod, und es sieht vollkommen zusammenhangslos aus mit seinen Zebraunterschenkeln, seinen Tapirhüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Rehaugen und Mausohren. Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig, in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin." (S.14)

Jeder im kleinen, verschlafenen Nest im Westerwald weiß, was das bedeutet - in den folgenden 24 Stunden wird jemand sterben. Das ist immer so, wenn Selma im Traum ein Okapi erscheint.

Jeder, das ist
Okapi (Quelle: pixabay)

  • der 10-jährige Martin, Luises bester Freund, der schon seit seiner Kindheit Gewichtheben übt und Luise ständig in die Höhe stemmt,
  • der Optiker, der die verwitwete Selma, deren Mann nicht aus dem 2.Weltkrieg zurückgekehrt ist, schon sein Leben lang liebt, aber seine inneren Stimme, die ihm abraten, ihr das zu sagen, nicht übertönen kann,
  • die abergläubische Elsbeth, ebenfalls Witwe, eine schrullige Kräuterhexe, die für jedes Leiden ein ungewöhnliches Mittel kennt.

"Elsbeth hatte etwas gegen Gicht, gegen ausbleibende Liebe und ausbleibenden Kindersegen, gegen unausgebliebene Hämorrhoiden und quer liegende ungeborene Kälber." (S.53)

  • die immer schlecht gelaunte Marlies, die im Haus ihrer Tante wohnt, in dem sich diese mit 92 Jahren aufgehangen hat,
  • Luises Vater, ein Arzt, der sich einer Psychoanalyse unterzieht und fortan immer auf Reisen ist und vor sich selbst wegzulaufen (?),
  • Luises Mutter, Annemarie, die sich seit Jahren mit der Frage herumschlägt, ob sie ihren Mann verlassen soll,
  • der Jäger Palm, der eine Wandlung vom Alkoholiker zum gläubigen Bibel-Zitierer durchläuft
  • und Alaska, ein Huskymischling, den der Vater kauft, um seinen eigenen Schmerz zu externalisieren,

"der Hund ist quasi eine Metapher. Eine Metapher für den Schmerz." (S.45)

  • Selma selbst dürfen wir nicht vergessen, die aussieht wie Rudi Carrell, Mon Chérie liebt und Luise Halt im Leben ist, da ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind.

Der Traum führt dazu, dass die Leute im Dorf versuchen

"auf den letzten Drücker Wahrhaftigkeit ins Leben [zu] bringen. Und die verschwiegenen Wahrheiten, glaubten die Leute, sind die wahrhaftigsten überhaupt: Weil nicht an ihnen gerührt wird, ist ihre Wahrhaftigkeit gestockt, und weil sie in ihrer Verschwiegenheit zur Bewegungslosigkeit verdammt sind, werden diese Wahrheiten im Lauf der Jahre immer üppiger." (S.24)

Auch der Optiker will seine Wahrheit endlich kund tun, indem er Selma einen Aktenkoffer voller angefangener Liebesbriefe vorbeibringen möchte - doch seine inneren Stimmen sind lauter und schließlich trifft der Tod ganz unerwartet eine Person, mit der man überhaupt nicht gerechnet hat.

Der 2.Teil spielt 12 Jahre später, Luise arbeitet inzwischen in einer kleinen Buchhandlung und ist nicht bereit, die Welt in ihr Leben zu lassen, wie es ihr Vater immer fordert, der in der ganzen Welt unterwegs ist. Das ändert sich, als sie dem buddhistischen, attraktiven, jungen Mönch Frederik kennen lernt, der jedoch in Japan in einem Kloster lebt.

Eine schwierige Situation:

"Wenn ich jetzt nicht aufhöre, verstockt zu sein, dann wird das nichts, dachte ich, dann biegt das Leben falsch ab." (S.149)

Wird Luises Leben die richtige Abzweigung nehmen?

Bewertung
Eine wahrhaft skurrile Geschichte mit eigenartigen, seltsamen Protagonisten, die einem beim Lesen in ihrer Schrulligkeit ans Herz wachsen. Man fühlt mit Luise, lacht über Selma und nimmt all die etwas ungewöhnlichen Ereignisse hin, wie Okapi-Träume, die den Tod bringen, oder Gegenstände, die beim Lügen zerbrechen. Es ist eine warmherzige Geschichte über den tragischen Tod eines Menschen und wie die, die ihn liebten, versuchen diesen zu verkraften, wenn es denn je ganz gelingen kann.
Der Roman zeigt aber auch, dass die intensive Beziehung zu geliebten Menschen, dass die Freundschaft uns durch schwierige Zeiten trägt, dass wir einen Bezugspunkt im Leben brauchen. Eine Aufgabe, die Selma für Luise übernimmt - eigentlich erzählt die Geschichte vom Leben selbst mit Humor und Zartgefühl. Wer sich dabei auf skurrile Situationen einlassen kann, der wird viel Spaß und Freude an dieser Lektüre haben.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 319 Seiten
DuMont Verlag, 2017

Samstag, 7. April 2018

Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb

- Lebensgeschichte eines Butlers.

Quelle: pixabay
Kazuo Ishiguro hat letztes Jahr den Literaturnobelpreis erhalten, Grund genug, einen Roman von ihm zu lesen bzw. zu hören. "Was vom Tage übrig blieb" stammt aus dem Jahr 1989 und wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet.

Worum geht es?
Der Roman erzählt die Lebensgeschichte des Butlers Stevens rückblickend aus seiner Perspektive. Im Jahr 1956 setzt die Handlung ein.
Lange stand Stevens im Dienst von Lord Darlington auf seinem Landsitz Darlington Hall. Inzwischen ist es an den amerikanischen Millionär Farraday verkauft, das Personal stark reduziert und viele Räume eingemottet. Aus der Sicht von Stevens schleichen sich unverzeihliche Fehler ein, so dass er beschließt Farradays Angebot, dessen fünfwöchigen Aufenthalt in den USA für einen Erholungsurlaub zu nutzen, anzunehmen.
Farraday stellt Stevens dafür den alten herrschaftlichen Ford zur Verfügung. Stevens Ziel ist Miss Kenton, die ehemalige Hauswirtschafterin von Darlington Hall, die in ihrem letzten Brief an ihn angedeutet hat, um ihre Ehe stehe es nicht zum Besten, zu besuchen. Stevens möchte sie fragen, ob sie bereit sei, wieder in Darlington Hall zu arbeiten, um den Personalnotstand zu beseitigen.

Auf seiner Reise reflektiert der alte Butler
über seine Arbeit,
darüber, was einen perfekten Butler ausmacht,
was Würde in seinem Beruf bedeutet,
wie er mit dem Wunsch seines neuen Dienstherren, mit ihm zu scherzen, umgehen soll.

Er erinnert sich aber auch an bedeutende geschichtliche Ereignisse,
wie eine geheime Konferenz im Jahr 1923, an dem ein Amerikaner, Franzose, Engländer und Deutsche teilgenommen haben, um über die Folgen des Versailler Vertrags zu diskutieren,
oder die  Fürsprache der Appeasement-Politik durch Lord Darlington.

Er klammert auch weniger rühmliche Meinungsäußerungen und Einstellungen seines Dienstherren nicht aus, der zeitweise mit dem Faschismus sympathisiert hat, verhält sich jedoch - selbst in seinen Gedanken - loyal und findet entsprechende Ausreden, die zeigen, dass seine Wahrnehmung verzerrt ist.

Den Großteil seiner Reflexionen betreffen Miss Kenton selbst. Es ist offenkundig, dass sie in ihn verliebt ist und auch er entsprechende Gefühle für sie hegt - auch wenn er das niemals äußern würde - nicht einmal in seinen Gedanken.

Mit Spannung erwartet man das Treffen der beiden. Ob sich an ihrer Beziehung noch etwas ändern wird?

Bewertung
Das Augenscheinlichste an dem Roman ist die Art und Weise, wie Stevens erzählt, denn er verbirgt seine wahren Gefühle hinter einer Fassade aus Distanz und distinguierter Sprache. Kann man dem, was er erzählt, vertrauen? Oder ist es geprägt von seiner perfekten Rolle als Butler? Man muss schon sehr genau zwischen den Zeilen hören, um seine eigene Meinung, seine Trauer um den Tod des Vaters, seine Emotionen im Angesicht von Miss Kentons Heirat zu erahnen. Er tritt völlig hinter seiner Rolle zurück - der Mensch Stevens scheint nur ganz selten hindurch.
Stets haben eigene Bedürfnisse und auch Meinungen hinter den Aufgaben, die ein Butler mit Zurückhaltung erfüllen muss, zurückzustehen.
Am Ende des Romans deutet sich ein Wendepunkt an, das, "was vom Tage übrig blieb", zu genießen und vielleicht aus der perfekten Rolle herauszufallen.

Das Hörbuch, wunderbar gelesen von Gert Heidenreich, ist wirklich ein Genuss. Die würdevolle, reserviert-distanzierte Sprache Stevens ist einerseits faszinierend, andererseits steht sie Stevens persönlichem Glück im Weg, da sie seine Gefühle verbirgt.

Hörbuch von Audible
8 Stunden 51 Minuten

Montag, 2. April 2018

Michael Hugentobler: Louis oder der Ritt auf der Schildkröte

- ein historischer Reise-Roman.

Leserunde bei whatchaREADIN

Der Roman orientiert sich an der historischen Person Louis de Rougement, dessen Buch "The Adventures of Louis de Rougement As Told by Himself" 1899 erschienen ist und der einige Jahre bei einem Stamm der Aborigines in Australien gelebt hat. Hugentobler antwortet auf die Frage, welchen fiktiven Anteil sein Roman habe, "dass die Geschichte einen wahren Kern hat, aber dass auch vieles fiktiv ist."
Einige der im Roman geschilderten Figuren haben gelebt, aber ihre Charaktere und ihr Verhalten habe er verändert. "Ein Spiel mit der Illusion: Wie viele Details braucht ein Leser, um zu glauben, etwas sei wahr, auch wenn es allenfalls erfunden ist." (Forum whatchareadin, Autorengespräch)

Worum geht es?
Der Roman beginnt mit dem misslungenen Vortrag Louis de Montesanto vor der Royal Geographical Society im Jahr 1898 über seinen Aufenthalt bei den Aboriginies, der mit subtilem Humor geschildert wird. Als ein Reporter ihn der Lüge bezichtigt und seinen Geburtsnamen "Hans Roth" ausspricht, geht der kleinwüchsige Mann auf Tauchstation.

"Das war der Moment, als er sich hinter das Rednerpult duckte. Für eine Sekunde hatte er das Geühl, er sei unsichtbar geworden." (S.11)

Die Handlung springt zurück ins Jahr 1849, zu Hans Roth Geburt in einem kleinen Schweizer Bergdorf. Die herbeigerufene Hebamme glaubt, seine Mutter könne unmöglich im 9.Monat schwanger sein, da ihr Bauch so klein ist - genauso klein wie der Junge, der jedoch einen unverhältnismäßig großen Kopf hat. Ein Umstand, der ihn zum Gespött der anderen Kinder macht.

"Von Anfang an mochte die Mutter das Kind nicht. (...) Die anderen Kinder warfen Dreck und faule Zwiebeln nach Hans. Einmal sperrten sie ihn in ein Butterfass, und er hörte sie draußen lachen. Sie trieben Nägel in den Deckel." (S.14)

Nachdem sein Vater betrunken mit seiner Kutsche den Felsen hinunterstürzt, heiratet die Mutter einen reichen Bauer und lässt den 13-Jährigen allein zurück, so dass er ins Tal flüchtet. Jahre später, nachdem er berühmt ist, wird es ein Museum im Dorf geben.
Jenes besucht 1961 Old Lady Long aus Australien, die Hans oder Louis, wie er sich später genannt hat, aus ihrer Kindheit kennt. Sie muss also zu jenem Stamm der Aborigines gehören, bei denen er gelebt hat. Die Besuchertafel gibt folgende Daten preis:

"Geboren am 12.Mai 1849, Entdecker des Stamms der Martu in Australien, Bestsellerautor, Empfang durch die Royal Geographical Society Großbritanniens, Tod in London am 9. Juli 1921." (S.18)

Sie entdeckt vergilbte Autogrammkarten, die den Titel des Romans erklären:

"Auf der Illustration war ein magerer Mann zu sehen, bis zu den Hüften im Wasser, zwischen seinen Beinen der glänzende Panzer einer Schildkröte, und es sah aus, als wolle der Mann auf der Schildkröte reiten." (S.21)

Wer ist diese alte Frau und warum möchte sie von Louis Abschied nehmen?
Die Frage wird zurückgestellt, denn zunächst erfahren wir chronologisch, welchen Weg Hans bzw. Louis nimmt, bis er schließlich in Australien landet.
Er verbringt einen Sommer bei dem Cannabis rauchenden Pfarrer Sägesser, der seiner Zeit in Indien nachtrauert. Gerät an die britische Schauspielerin Emma Campell, die die Behandlung der Sklaven auf der Plantage ihres Mannes angeprangert hat, worauf sich ihr Mann von ihr scheiden ließ. Von ihr erhält er seinen neuen Namen. Sie vermittelt ihn an einen Bankier, der ihn wiederum zu Sir Willaim Stevenson schickt, der zum Gouverneur einer Kolonie in Australien berufen wird.
Louis ist sein Butler, einer, der das übrige Personal schikaniert und Lügengeschichten erzählt:

"Abend erzählte er den Bediensteten, er sein französischer Edelmann italienischer Abstammung und nur hier, um Demut zu erlernen." (S.47)

In dieser Szene hebt der auktoriale Erzähler die Distanz auf und offenbart die Gefühle Louis, der von den anderen gehasst wird. Er fragt sich, warum er die Gesellschaft von Menschen nicht suche und ihm Bindungen ein Graus seien. Das mag mit der Zurückweisung seiner Mutter zusammenhängen, mit den Erfahrungen seiner Kindheit. Er selbst hat keine Liebe erfahren und entwickelt sich zu einem wenig empathischen Einzelgänger.

In Australien verlässt er den Gouverneur und gerät auf abenteuerlichem Weg zu den Aborigines, unter denen er tatsächlich einige Zeit lebt. Er "heiratet" die schöne Yamba, die er liebt (?), zumindest benutzt er sie, "um sich ein Gefühl von Freiheit zu verschaffen." (S.79)

Der Drang nach Freiheit erklärt vielleicht seine Ruhelosigkeit, seine Reiselust und vielleicht auch seinen Widerwillen sich anzupassen.
Die Ausgrenzung, die er seit früher Kindheit erfahren hat, setzt sich auch im Stamm fort und liegt darin begründet, dass er nicht in der Lage ist, ihre Gesetze und Regeln zu verstehen oder aber zu befolgen. Der Erzähler erlaubt nur kurze Einblicke in Louis Gedanken, so dass wir über seine Motivation und die Hintergründe seines Verhaltens nur spekulieren können.
Der Weg bis zu seinem Vortrag im Jahr 1898 ist steinig und mühsam, doch unbeirrbar verfolgt Louis das Ziel, seine Geschichte zu erzählen. Ist sie wahr? Warum wird er als Lügner bezeichnet?
Darauf gibt der Romane interessante Antworten, denn Louis fragt sich,

"ob Wahrheit für eine Geschichte überhaupt nötig sei." (S.70)

"Das Problem war, dachte er, dass der Grat zwischen Fakt und Fiktion schmal und verwirrend und unnötig sei." (S.110)

Und so dehnt er die Wahrheit und hat durchschlagenden Erfolg - bis er entlarvt wird.
Humorvoll wird die Demontage des letzten Abenteurers erzählt, eigentlich unglaublich, was die Menschen alles für bare Münze genommen haben, um ihre Vorurteile bestätigt zu sehen und unterhalten zu werden. Da hält Hugentobler auch der heutigen Gesellschaft schonungslos den Spiegel vor.

Bewertung
Ich  finde die Geschichte und das Leben von Louis de Montesanto interessant, ebenso die geschilderten Sitten, Traditionen und Bräuche der Aborigines. Dem Autor gelingt es die einzelnen Figuren mit wenigen Sätzen treffend zu beschreiben und viele Szenen weisen einen subtilen Humor auf.
Allerdings sorgt die distanzierte Erzählweise, die nur wenig Einblicke in die Gefühle und Gedanken der Protagonisten zulassen, dafür, dass sich der Roman wie ein Bericht liest, nüchtern und sachlich. Ausnahmen bilden die Kapitel, in denen Old Lady Long im Mittelpunkt steht, sie ist die einzige Sympathieträgerin, während Louis/Hans als Mensch erscheint, dem jegliche Empathie fehlt. Einzig seiner Tochter, die er gemeinsam mit Yamba hat, bringt er Liebe entgegen. Die Szene, in der er über sie spricht, zeigt ihn als mitfühlenden Menschen.

Positiv kann man festhalten, dass er keine Vorurteile gegenüber den Aborigines hat, andererseits hat er "einfach nicht verstanden, nach welchen Gesetzen sie leben würden, und es habe ihn auch nicht interessiert." (S.103)
Er ist ein Außenstehender, der die zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion nicht zu verstehen scheint, Ausnahme bildet seine Tochter.

"Die einzig zulässige Version der Wahrheit sei jene, die den Leser sofort in ihren Bann ziehe" (S.110).

Und das ist Hugentobler mit seiner Geschichte nur bedingt gelungen, da die Figuren auf Distanz bleiben, keine Nähe zwischen ihnen und den Leser*innen entsteht. Es bleibt die interessante Lebensgeschichte eines "unerträglichen Widerlings" (S.148), der aus seiner Welt ausgebrochen ist.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 187 Seiten
dtv, 2018

Vielen Dank an den Verlag für das Lese-Exemplar.